Sehr geehrter Herr Vizekanzler Scholz,
sehr geehrte Damen und Herren Mitglieder des Finanzausschusses des Deutschen Bundestages, das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem am 18.08.2021 veröffentlichten Beschluss den Gesetzgeber aufgefordert, die verfassungswidrige Zinsregelung in § 233a AO und § 238 AO zu ändern. Aus Sicht des Bundesverbandes der Steuerberater sollte bei der Neuregelung folgendes bedacht werden:
1. Der Gesetzgeber hat seit dem Beschluss des IX. Senats des BFH (IX B 21/18, BFHE 260, 431 = BStBl. II 2018, 415) vom 25.4.2018 damit rechnen müssen, dass er im Rahmen der besonders wichtigen nach § 233a AO voll verzinsten Steuern (ESt, GewSt, KSt und USt) die überhöhten Zinsen nicht haushaltswirksam vereinnahmen konnte. Insofern ist er vom BVerfG aufgefordert, ab 2019 rückwirkend eine Neuregelung mit niedrigeren Zinsen zu schaffen. Der anzusetzende Zinssatz muss von Verfassungs wegen realitätsgerecht sowohl Anlagezinssätze als auch Kreditzinssätze in den Blick nehmen. Angesichts der früheren Orientierung am Diskontsatz zuzüglich eines Aufschlags von 2 % p.a. könnte jetzt eine Orientierung am Basiszinssatz zzgl. des nämlichen Aufschlags von 2 % p.a. erfolgen. Dies würde seit 2019 einem Zinssatz von z.B. 1, 12 % p.a. oder -vereinfachend- 0, 1 % pro Monat ermöglichen. Die Entscheidung muss der Gesetzgeber bis zum 31.7.2022 abschließend treffen; unterlässt er dies, fallen keine Zinsen auf ,,normale" Nachzahlungen bei diesen Steuern an.
2. Soweit an den Steuerpflichtigen Erstattungszinsen zu leisten sind, wird im Rahmen der gesetzlichen Neuregelung zu prüfen sein, ob und für welche Zeiträume es zu einer entsprechenden Absenkung des Zinses für zu erstattende Steuern kommen soll bzw. darf. Der Gesetzgeber darf sein Konzept, im Soll und Haben den gleichen Zinssatz anzuwenden, im Rahmen der Vollverzinsung beibehalten. Diesen Ansatz hat das BVerfG ausdrücklich als verfassungsrechtlich unbedenklich angesehen.
Senkt er den Zinssatz für Steuererstattungen, wird er aber aus Gründen des Vertrauensschutzes über eine etwaige Fortgeltung des alten (höheren) Zinssatzes bis zum Inkrafttreten der gesetzlichen Neuregelung zu entscheiden haben. Steuerpflichtige haben bei Entscheidungen über wahrheitsgemäße Angaben in Steuererklärungen auch zu bedenken gehabt, welche Folgen aus etwaigen späteren Korrekturen der erklärten Ansätze z.B. im Rahmen von Außenprüfungen erwachsen können, mithin ob man sich bei der Steuererklärung davon leiten ließ, möglichst keine zinspflichtigen Nachzahlungen entstehen zu lassen oder ob das Bestreben dahin ging, zunächst möglichst wenig Steuern entrichten zu müssen. Im Rahmen der erforderlichen Offenlegungen gegenüber dem Finanzamt sind beide Wege legitim und werden genutzt.
Würde der Gesetzgeber jetzt in diese (abgeschlossenen) Entscheidungen eingreifen, widerspricht dies dem Vertrauensschutz, dessen Rechtsgedanke in § 176 AO für eine Vielzahl von Konstellationen eine belastende rückwirkende Anwendung einer ungünstigen Rechtsprechung ausschließt. Nur dies schützt die allgemeine Handlungsfreiheit der Steuerpflichtigen in der einem Rechtsstaat geboten Art. Entscheidet sich der Gesetzgeber, den Vertrauensschutz zu ignorieren, wird dies vorhersehbar angegriffen und gerichtlich überprüft werden.
3. Soweit der Steuerpflichtige Zinsen im Zusammenhang mit einer Stundung von Steuern(§ 234 AO) oder der Aussetzung der Vollziehung(§ 237 AO) zu zahlen hat, wirkt die Entscheidung des BVerfG hierfür nicht (Rn. 242 des Beschlusses). Der Gesetzgeber wird zu entscheiden haben, ob er auch insofern einen einheitlichen Zinssatz anwenden will oder er sich für diese häufig als Kreditersatz genutzten Möglichkeiten eine Orientierung näher am Sollzins bzw. Verzugszins vornimmt. Dies könnte einen Zinssatz z.B. in der Nähe zum BGB-Sollzins (§ 288 BGB) i.H.v. derzeit 4,12 % p.a., mithin z.B. von 0,3 % pro Monat rechtfertigen. Ferner wird der Gesetzgeber überlegen müssen, ob angesichts der von BVerfG festgestellten Verfassungswidrigkeit des 6 ¾igen Zinssatzes schon seit 2014 in diesem Bereich eine Entlastung in allen offenen Fällen geregelt werden muss.
4. Schließlich wird sich der Gesetzgeber überlegen müssen, ob er künftig die Prozesszinsen auf Erstattungsbeträge (§ 236 AO) ebenfalls anpassen möchte. Hier widerspricht u.E. jede Rückwirkung dem verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbot. Demgemäß kann der Gesetzgeber nur durch eine schnelle gesetzliche Regelung eine Haushaltsentlastung erreichen. Dagegen spricht allerdings, dass zum Umfang von zu zahlenden Erstattungszinsen noch ein Verfahren bei BVerfG anhängig ist, das noch für 2021 zur Entscheidung ansteht. Angesichts der bevorstehenden Bundestagswahl und damit der Neukonstituierung des Gesetzgebers mag es sich demgemäß anbieten, den Ausgang dieses Verfahrens in die Rechtsbereinigung einzubeziehen.
Für den fachlichen Austausch zu dem Themen.komplex er Verzinsung steht Ihnen der Bundesverband der Steuerberater gerne als sachkundiger Partner zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen
Bundesverband der Steuerberater e.V.
Professor Dr. Jochen Lüdicke
Präsident
Rechtsanwalt - Steuerberater
Fachanwalt für Steuerrecht